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2. Ausgabe – Thema Spuren

Editorial

Der Blick in die Zukunft gleicht einer rasanten Autofahrt, bei der der Fahrer in den

Rückspiegel sieht. Nach vorne durch die Windschutzscheibe schaut nur der Künstler,

der deshalb die Zukunft auch klarer erkennen kann – so eine berühmte Metapher von

Marshall McLuhan. Die Frontscheibe ist allerdings in gewisser Weise auch ein Rückspiegel

– so Neil Postman in einem Kommentar hierzu – denn jede von uns gesehene Zukunft

kann auch nur eine Projektion der Vergangenheit sein.

Das Interesse des Menschen an seiner Zukunft ist vielleicht größer denn je – das legt ein

Blick in die literarischen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre nahe […]

Mit dem Bild eines durch den Rückspiegel in die Zukunft blickenden Zeitreisenden ist

auch die kompositorische Anlage dieser Ausgabe „Spur(en) – fortbestehende Präsenz

eines Restes“ beschrieben. Die literarischen und künstlerischen Beiträge wollen alle

auf ihre Art die Gegenwart über die Ideen und Entwicklungen der Vergangenheit

lesen und verstehen […]


Inhalte der zweiten Ausgabe
Texte:
Markus Orths – Der Leuchtturmwächter
Durs Grünbein – Humboldts Bunker

Leif Randt – Snooze (Version 2.7)
Kathrin Althans – Die kulturelle Bedeutung des Dreaming
Liron Lavi Turkenich – Die kulturelle Bedeutung des Dreaming

Bilderstrecken:
Durs Grünbein – Humboldts Bunker
Richard McGuire & Stephan Kleiner– Hier
Gregg Segal – 7 Days of Garbage
Lars Tuchmann – The presence oft he souls of strangers and forgotten ones
Wim Wenders – Nichts außer 8 lassen, was es alles
Nikolaus Geyrhalter – Spur- eine Ordnung störende Erfahrung

Weitere:
Rezensionen
Die Spuren der Literatur: Literaturpreise
Interview mit Leif Randt
Fakten
Buchempfehlungen

Wettbwerbssiegertexte

1. Platz
Isabella Hesse – 364

364
Es war peinlich auf der Party gestern. Als sich um Mitternacht alle heulend in den Armen lagen und tiefsinnige Geständnisse lallten, saß ich bloß gelangweilt da und

dachte: „Ich will ins Bett.“
Nicht, dass ich Lebensmüde wäre. Ich mag mein Leben. Ich denke, das ist das Problem. Ich schreibe mir keine To-do-Listen für mein letztes Jahr. Ich schmeiße keine Gläser gegen die Wand und breche in Tränen aus. Ich mag mein Leben. Darum ist es nicht so schlimm, dass es

in 364 Tagen endet.

349

Auf eine schräge Art bin ich dem Asteroiden, der bald auf die Erde einschlagen wird, dankbar. Früher konnten die wenigsten Künstler von ihrer Leidenschaft leben. Ich hatte mal ein Gespräch darüber, wie sich das heutige Geschäft mit dem Tresor vom Selfie-Wahn des frühen 21. Jahrhunderts unterscheidet. Mein Kollege meinte, damals ginge es den Leuten nur um ihr Ego. Die Selfies, die Essensfotos, die Katzenvideos und Urlaubsbilder.

Heute sind die Menschen nobler, heute geht es um den Fußabdruck unserer Spezies, unser Vermächtnis. Ich meinte: Schwachsinn. Wenn es wirklich um die Ewigkeit ginge, würden man einander feiern, die Kulturgüter anderer mit langem Arm über dem Gedränge der Masse schwenken und rufen: „Schaut her, von dieser Subkultur oder dieser fast vergessenen Ethnie liegt noch nichts im Tresor!“ Stattdessen lassen sich reihenweise reiche alte weiße heterosexuelle Männer portraitieren. Ich vertraue der Jury, darum macht es mir nichts aus, solche Männer zu zeichnen und einzusenden. Aber wenn der Tresor nachher mit denen vollgestopft ist bin ich sauer.

324

Sie heißt Nour. Das bedeutet „Licht“. Andere Künstler machen Small Talk oder verlangen totale Stille während sie arbeiten. Ich erfahre gerne etwas über meine Kun-

den. Nour ist Theaterpädagogin. Sie regt sich über Leute auf, die meinen, es wäre sinnlos Kindern jetzt noch etwas beizubringen.

Nour liebt Rätselraten, wie in Herr der Ringe. (Das war zwar der Hobbit, aber das sagt man einem so hübschen Mädchen nicht, vor allem wenn sie Herr der Ringe mag.) Nour schreibt am Ende jedes Tages die 3 schönsten Dinge auf, die ihr passiert sind. Nour hat Locken wie bauschige Wolken, geschmolzene Schokoladenaugen unter asymmetrischen Augenbrauen. Sie hat lange Finger, eine große Nase und kleine Handgelenke aus Vogelknochen.

303

Ich habe ein Geheimnis. Seit 21 Tagen zocke ich sie ab, Nour und die Menschheit. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Nour zocke ich ab, weil ich sie wieder einbestellt habe um sich abbilden zu lassen, obwohl sie schon nach dem ersten Mal mit meiner Arbeit zufrieden war. Ich nicht. Die Menschheit zocke ich ab, weil ich seitdem ich Nour getroffen habe, kein einziges Bild mehr an die Jury geschickt habe. Nicht von meinen reichen Arschlochkunden, die neben ihren teuren Ölgemälden einen Plan B möchten. Nicht von meinen Stammgästen, die mir Kekse oder handgestrickte Socken mitbringen. Nicht mal von einem sieben-

jährigen Jungen, der vor Angstgezappel fast vom Hocker gefallen wäre. Wir haben Kekse gegessen und über seine Fußballmannschaft geredet, bis es besser wurde.

Wenn die Grünen Männchen im Weltall etwas von uns finden sollen, dann Nour, weil nichts auf der Welt die Menschheit und ihre durchgeknallte, sinnlose Schönheit

besser beschreibt als das Mädchen, das den Kalenderblättern zum Trotz mit den Kindern spielt.

270

Heute sagte ich Nour, ich könne kein Geld mehr annehmen. Ich möchte sie zu meinem Meisterwerk machen, wenn sie die Geduld hat und würde sie auch bezahlen. Nour sagte, wir können die Bezahlung vergessen, wenn ich mit ihr einen Kaffee trinke. Und ich hab sie geküsst. Natürlich war es dämlich. Was, wenn sie keine Mädchen mag? Was, wenn sie Mädchen mag aber mich nicht? Was, wenn sie mich mag aber nur als Freundin und das mit dem Kaffee war nur weil sie noch nicht gefrühstückt hat und hofft, dass ich ihr einen Muffin spendiere? Aber Nour hat mich zurückgeküsst. Und ich musste weinen, weil ich Nour schon seit 33 Tagen kenne und ich lebe seit mehr als 23 Jahren und bin einfach durch die

Schule getrudelt, dann irgendwie Künstlerin geworden, war ab und zu mit einem Mädchen glücklich, aber habe nie gesucht in diesen 23 Jahren, weil ich nicht dachte, dass es etwas gibt, was es lohnt gefunden zu werden.

Nour hat mich in den Arm genommen und ich lauschte ihrem Herzschlag wie einer tickenden Uhr.

210

Ich würde am liebsten meinen Job kündigen. Klar, ich brauche ein Dach überm Kopf und was zu Essen und Papier und Farben. Was ich mehr brauche, ist Zeit. Seit zwei Monaten sind wir zusammen und ich habe noch kein Bild, das ich einreichen kann. Ich habe Nour morgens gezeichnet, wenn ihre Haare verwirrt und dreimal so groß um ihren Kopf herum ab-

stehen. Ich habe unseren morgendlichen Abschiedskuss gemalt. Der Himmel vom Licht der aufgehenden Sonne orange, pink und violett gestreift wie ihre Wollmütze. Ich habe Fotos von ihr gemacht, wenn sie sich zum Weggehen hübsch macht und wenn sie in Jogginghose im Bett liegt. Keins davon ist gut genug. Ich bin nicht gut genug.

209

Nour sagt ich soll mir das Melodrama für unseren Kinoabend aufsparen. Ich weiß, sie hat die Nase voll davon, wie ich mit unseren Minuten knausere, um sie dann alle für ein neues Bild auszugeben wie ein Junkie.

150

Ich halte es nicht mehr in ruhigen Räumen aus. Ohne Gespräch oder Musik im Hintergrund füllt das Ticken meinen Kopf und ich atme schneller und schneller und könnte kotzen vor Angst. Weil es noch 150 Tage gibt und dann nichts und noch mehr nichts und das Weltall ist so leer, wie soll man uns jemals darin finden? Uns Menschen mit unserer Keksdose voll Souvenirs, in der nur ein Bruchteil von all dem Platz hat, was wir sind.
Liebe, Hass, Schmerz, Krieg, Ölfarben, Herr der Ringe, Kekse, Wollmützen und Abschiedsküsse.

143

Es muss aufhören. Morgen suchen wir uns beide je ein Bild aus und schicken es ein, kündigen unsere Jobs und verbringen die Zeit im Bett oder auf der Couch oder auf einer idyllischen Wiese, wo wir uns Blumenkronen flechten. Hauptsache zusammen. Nach Einsendeschluss bleiben nur 100 Tage um das Kulturgut der menschlichen Geschichte zu durchwühlen.

Beethoven wird drin sein und die Mona Lisa. Vielleicht Shakespeare, den keiner verstehen wird. Aber auch Du und Ich haben eine Chance, das betont die Jury immer. Gib den Menschen ein Spiel, bei dem sie gewinnen können und sie werden sich darauf stürzen anstatt in Panik und Chaos zu versinken. Bei den Kindern klappt es schließlich auch.

140

Ich habe unsere Bilder eingeschickt. Für Nour eine Zeichnung von uns, sie liegt mit dem Kopf in meinem Schoß, ich kämme ihr die Haare und sie lackiert meine Nägel. Ich habe eins mit den Theaterkindern gewählt. Nour in ihrem roten Kleid das Feuer, die Kinder die Herbstblätter, die um sie herumtanzen. Es ist nicht mein Lieblingsbild von Nour, aber ihre Augen leuchteten auf, als sie es gesehen hat. Sie hätte es bestimmt selbst gewählt, aber sie wollte eins von uns beiden. Liebe, stimmt’s?

9

Eine Mail von der Jury. Ich ignoriere den Text, sobald ich „Beitrag akzeptiert“ lese, öffne das angehängte Bild. Ein älterer Herr, weiß, Mitte 60. Er trägt einen Anzug und

eine Rolex. Sein Plan B hat Früchte getragen. Ich erinnere mich. Das Gesicht war in 90 Minuten skizziert. An der Uhr habe ich drei Tage gearbeitet. Habe die Lichtspiegelungen auf dem Ziffernblatt in einen Totenkopf verwandelt. Er hat es nicht einmal gemerkt.

Uhr. Zeit. Memento Mori. Ich lese, dass sie diese Thematik begeistert hat.

„Was ist los?“Nour tritt herein, wischt mit dem Daumen über meine Wange. Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich weine. „Die Jury“, sage ich mit einer Stimme wie ein Kind. Nour

hebt die Augenbrauen. „Und?“ Ich habe es nicht geschafft. Ich war nicht gut genug. Aber

das sagt man nicht der Frau die man liebt. Ich schließe sie in die Arme, küsse ihr Haar und sage: „Du bist drin.“



2. Platz
Peter Zemela – Störung

Wenn man den Forschungen diverser Historiker Glauben schenken darf, soll er Krapp geheißen haben, Krepp behaupten andere, in diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander, der blasse, hagere Mann im sandfarbenen Mantel, von dem dieses berühmte Foto existiert, wie er am Rande der Proteste auf dem Paradeplatz von drei mit Helm und Schild und Knüppeln bewehrten Polizisten gebrochen wird wie ein morsches Ästchen, wie er den einen Arm, den linken, noch zu heben meint, vielleicht um den nächsten Schlag oder Tritt abzuwehren, aber schon dazu nicht mehr die nötige Kraft aufbringt, dieses Foto, das am nächsten Tag auf der Titelseite der größten Zeitung des Landes zu sehen war und das das Ende des Regimes besiegelte, das Foto, das das Ende eines Mannes zeigt, der, wie der berühmteste der Historiker schriebt, nie hatte stören wollen, das hätten die Interviews, die seine Studenten mit Lehrern und Mitschülern von Krapp oder Krepp, mit dessen Arbeitskollegen, Vermietern und Nachbarn geführt hätten, ergeben, der schon in der Schule nie mit von der Partie gewesen war, wenn durch die Flure gelärmt oder der Unterricht durch verstohlenes Wispern, durch das Werfen von Gegenständen aus dem Takt gebracht wurde, von dem, wenn von ihm überhaupt etwas zu hören gewesen war, der Satz Ich möchte nicht stören oder Aber ich möchte nicht stören zu hören gewesen war, in der Schlange derer, die morgendlich auf den Bus warteten, in der Schlange derer, die in der Kantine um Essen anstanden, wenn es darum ging, wer im Betrieb die liegen gebliebene Arbeit des Erkrankten übernehmen sollte, bei der Erledigung der Hausordnung oder wenn der alte, unter ihm wohnende Herr am Abend an seine Tür klopfte, um ein Päckchen, das er, der alte Herr, für Krapp oder Krepp angenommen hatte, abzuliefern, dann sagte dieser, Krapp oder Krepp also, er hoffe, keine allzu großen Umstände bereitet zu haben, und wenn die Mitglieder der Putzkolonne einmal später als gewöhnlich an den Schreibtischen auftauchten, um zu saugen, zu wischen, die Papierkörbe zu leeren, dann legte er keineswegs wie andere, wie die meisten, ein Verhalten an den Tag, das die herausgehobene Stellung der Angestellten hier im Gegensatz zu den Saugenden und Wischenden da unterstrich, sondern sprang zur Seite, hob die staksigen Beine, versuchte sich noch dünner und unbemerkbarer zu machen und sagte, sagte es leise, er wolle nicht stören, was, zu dieser Erkenntnis glaubte der Historiker gekommen zu sein, Krapp oder Krepp auch gesagt haben dürfte, das oder etwas ganz Ähnliches, Gleichlautendes, als es ihn, warum auch immer, vielleicht weil er eine Tüte Milch kaufen, vielleicht weil er ein Schreiben auf der Hauptpost aufgeben wollte, in die Nähe des Paradeplatzes verschlug, wo er, erschreckt vom Stimmengewirr der Protestierenden, zurückgewichen sein musste in eine der Seitenstraßen, an eine der Hausmauern, wo ihn die drei mit Helm und Schild und Knüppeln bewehrten Polizisten stellten, wo er die Hände hob zur Abwehr und Beschwichtigung, wo er zur Seite blickte und mit einiger Sicherheit, so der Historiker, sagte, er wolle keinesfalls störe



3.Platz
Jenny Schon – Verloren

Ich bin versteckt unter dem Hochzeitskleid, als kleine Kugel sichtbar. Die Papiere hatten so lange gedauert. Papiere dauern überall auf der Welt lange, besonders im Krieg, wo Papier auch eine Waffe sein kann, besonders wenn einer der Beteiligten Ausländer ist. Lenka hatte auf dem Hochzeitsfoto den Rosenstrauß vor das Bäuchelchen gehalten. Als ich auf die Welt kam, waren die weißen Rosen, die der Opa als Hochzeitsstrauß abenteuerlich zwischen Bombenwürfen und Armeebewegungen besorgt hatte, verwelkt, aber sie lagen geköpft und gelblich in der Silberschale als Erinnerung vor dem Hochzeitsfoto. Das alles musste sie zurücklassen, als im Sommer 1945 die Tschechen sie zur Ausländerin erklärten, weil sie jenen, dem sie das Bäuchlein verdankte, geheiratet hatte, irgendwer ist irgendwo immer ein Ausländer. Sie musste dahin, wo er herkam, mit dem Kind im Kinderwagen. Trotzdem glaubte sie, mit dem Mann das Glück des Lebens gemacht zu haben.
Das Hochzeitsfoto trägt sie als Medaillon an der Halskette, aber in einem Anfall von Vergangenheitsbewältigung hat die Liebesbriefe dieses Mannes, die sie noch schnell einstecken konnte, zerrissen, ritsch-ratsch in den Kohleofen. Später ging das nicht mehr, da hatte sie eine Heizung.
Ritsch-ratsch war wegen einem neuen Mann, Schäng Schmitz, noch rheinischer als mein Vater, der gestorben war mit 62, und das ist lange her, wie alles lange her ist – auch Schäng Schmitz ist tot. Meine Mutter lebt noch…

Aber der Reihe nach. Sechs Wochen nach der Heirat kam ich auf die Welt, vierzehn Tage zu spät. Dat wird ne Jung, strahlte mein Vater. Jungens brauchen länger im Bauch wegen dem Pimmelchen, Mädchen haben ja nichts und sind ein Leben lang neidisch. Du sullst nit äsu neidisch sin up dinge Bruder, du Luder, schimpfte er mit mir, als dann das Brüderchen da war, viel später, in dem anderen Ausland. Ich wurde gestillt, sechs Wochen lang, dann ging Mutti arbeiten bei der Post, wie vor der Geburt. Übers Telefon hatte sie ja Vati kennengelernt. Fräulein von der Post, wo kann ich in Ihrem Städtchen tanzen gehen, hatte er mit angenehmer Stimme gefragt. Tanzengehen, hier? Ins Klein oder im Augarten, am Samstag ist Tanz. Darf ich Sie einladen? Fragte er weiter.  Auch ihm gefiel ihre Stimme. So tanzten sie im Augarten, beim Klein, unter den Laubengängen der anmutig wirkenden Stadt am Fuße des Riesengebirges. Er ist ein Deutscher, er ist evangelisch, den laß ich nicht mehr laufen, frohlockte Lenchen, die zur tschechischen Zeit Lenka genannt wurde. Irgendwann war ich bei ihren Tänzen dabei, es schaukelte sich schön in ihrem weichen warmen Bauch.

Immerhin war ich verlobt, an meinem zwanzigsten Geburtstag ist es passiert, da hab ich Vati besucht in Königgrätz, wo er bei der Luftwaffe am Flughafen diente, rechtfertigte sich Lenchen. Sie entwöhnte mich, ging wieder tanzen, ging wieder zur Arbeit. Frauen waren wichtig. Lenchen hatte auch Morsen gelernt, das war aber noch vor meiner Zeit und in meiner Zeit war ich die meiste Zeit bei Oma und Opa, ein paar Ecken weiter. Dann war Oma und Opa weg, Vati kam nicht mehr am Wochenende von Königgrätz zu uns. Keiner kam mehr zu uns. Doch, die Miliz, zerrte uns ins Haus, Schüsse krachten, wir wollten raus, weg, man schmiß uns ins Treppenhaus zurück, den Leichnam, der stark blutete, hinter uns her. Wir kannten ihn nicht. Jahre-lang verfolgte mich die schmerzverzerrte blutende Fratze des Mannes in Zivil. Älter war er, aber nicht so alt wie Opa, größer war er als Opa. Jetzt lag er wie ein Sack im Treppenhaus, das Blut klebte noch Wochen an der Wand. Es war mein erster Toter, andere folgten. Ein letztes Mal an den Blutspuren vorbei. Wir müssen raus, schrie Mutti. Warum? Wohin? Ich war erschrocken. Sie hatte ein Bündel gepackt und den Kinderwagen aus der Waschküche geholt, auf dessen Dach sie vor ein paar Wochen sich vor den Mongolen versteckt hatte. Die Mongolen kommen, tuschelten die Frauen besorgt. Sie flüchteten in die Keller und wurden geschnappt.

Nur Mutti nicht auf dem Waschküchendach, da waren sie nicht drauf gekommen, daß eine Frau so flach sein kann, daß sie wie Dachpappe aussieht. Wir hatten ja kaum was zu essen in der letzten Zeit. Also in den Kinderwagen, herrscht sie mich an. Ich will nicht, ich bin schon groß, protestiere ich. Ich werde hineingeschubst. Weiter, ihr Nazischweine, drängelt der Tscheche mit seinem Gewehr. Wir werden nach Oberaltstadt getrieben, in Reih und Glied, Kinderwagen um Kinderwagen. Wir schlafen tagelang im quietschenden Drahtgestell im Männerlager, alte Männer, das Frauenlager ist überfüllt. Die meisten Männer sind umgebracht worden, die anderen in Gefangenschaft, von Vati keine Spur. Die Wanzen lassen sich von der Decke fallen. Hüpfende frohlockende Wanzen. Daran kann sich meine Mutter ein Leben lang erinnern. Alle halten den Atem an und lauschen.